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11. August 2023 - Meldung

Afghanische Aktivist:innen in Deutschland: Zwischen Freiheit, Hoffnung und Heimweh

Basira Akbarzada und Saina Hamidi haben in Afghanistan für Medica Afghanistan gearbeitet, eine Partnerorganisation von medica mondiale. Als die Taliban im August 2021 die Macht ergriffen, waren die beiden Frauen und ihre Familien ebenso wie all ihre Kolleg:innen in Lebensgefahr. Mit Unterstützung von medica mondiale gelang ihnen einige Monate nach der Machtübernahme die Flucht nach Deutschland. Wie sie heute auf diese Zeit blicken und was ihnen Hoffnung macht – ein Besuch in Frankfurt.

Basira und Saina blicken selbstbewusst in die Kamera.
Saina Hamidi (rechts) und Basira Akbarzada haben in der Umgebung von Frankfurt einen sicheren Ort gefunden, um Zukunftspläne zu schmieden.

Manchmal, wenn Saina Hamidi sich umschaut, noch einmal bewusst wahrnimmt, dass sie in Deutschland ist, dann glaubt sie noch zu träumen. Vielleicht ist sie noch nicht aus der Narkose nach ihrer Kaiserschnittgeburt aufgewacht? Ihr Sohn war einen Tag alt als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen. Saina lag mit ihm in Kabul im Krankenhaus, erschöpft, mit noch frischen Wunden am Unterbauch, müde. Und um sie herum schien die Welt unterzugehen.

„Ich werde nie diesen schlimmsten Tag meines Lebens vergessen.“

Saina Hamidi, Psychologin und frühere psychologische Beraterin bei Medica Afghanistan

In Panik packte sie ihre Sachen, nahm ihr Kind und versuchte mit ihrem Mann zum Flughafen zu gelangen. „Alle Wege waren zu.“ Sie musste weiter in Afghanistan bleiben, sich verstecken. Als Beraterin bei einer Frauenrechtsorganisation stand sie nun im Visier der Taliban. Was ihr in der Zeit geholfen hat, durchzuhalten? Hoffnung, und der permanente Kontakt zu ihren Kolleg:innen von medica mondiale in Deutschland. Sie haben sich Tag und Nacht für die Evakuierung von Saina, ihren Kolleg:innen und Familien eingesetzt: Fluchtrouten recherchieren lassen, Informationen durchgegeben, mental unterstützt. Saina erinnert sich noch gut an die vielen Nachrichten, die die deutschen Kolleg:innen ihr und den anderen Frauen per Handy schickten. Sie sprachen ihnen Mut zu, reagierten dank einer 24-Stunden-Bereitschaft direkt, wenn sie oder eine andere Kolleg:in Panik bekam. In kurzen Videos leiteten Trauma-Expert:innen von medica mondiale Meditationen an. „Wir fühlten uns gesehen“, erinnert sich Saina.

Ausreise nach Deutschland nach vier Monaten

Nach vier Monaten war es endlich so weit: Die Ausreise war organisiert, die schriftlichen Aufnahmezusagen durch die Bundesregierung lagen dank medica mondiale vor, Saina hatte alle nötigen Dokumente. Alles andere – Fotos, Papiere – verbrannte sie, sie ließ nichts zurück, was auf ihre Arbeit und ihre Flucht schließen konnte.

„Deutschland war für mich wie ein süßer Traum: Ich konnte frei sein.“

Saina Hamidi

All das erzählt die 27-Jährige zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban. Sie sitzt in Frankfurt in einem Café, ohne Verschleierung, mit einem blau-gemusterten Mantel und ist froh, dass sie erzählen kann. Von ihrer Familie, die immer noch in Afghanistan ist. Von ihren Projekten in ihrer Heimat. Von ihren Hoffnungen.

Heute lernt Saina mit anderen ehemaligen Medica Afghanistan-Kolleg:innen an der Frankfurt University of Applied Science. Dort haben sie mit Unterstützung von medica mondiale eine Weiterbildung belegt, weil ihre Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden. In Afghanistan hat Saina sich für Frauenrechte eingesetzt. Sie hat Frauen psychologisch begleitet, die sexualisierte Gewalt erlebt haben – ob von Taliban-Kämpfer:innen oder innerhalb der eigenen Familie. Sie hat im Frauenministerium gearbeitet, Videos produziert, um über sexualisierte Gewalt zu informieren, eine Broschüre veröffentlicht und an Mädchen verteilt, um sie über ihre erste Periode aufzuklären.

„Ich habe immer für Frauenrechte gekämpft. Mein Traum ist, von Deutschland aus weiter für Frauen in der ganzen Welt zu arbeiten.“

Saina Hamidi

Zusammenarbeit mit medica mondiale in Deutschland

Gegenüber von Saina sitzt Basira Akbarzada. Die 27-jährige Psychologin hat ebenfalls bei Medica Afghanistan gearbeitet und lernt nun mit Saina zusammen die Grundlagen der „Sozialen Arbeit“ an der Uni Frankfurt. Beide geben gemeinsam mit Kolleg:innen von medica mondiale Workshops, die sich an Afghan:innen in Deutschland richten. Darin arbeiten die geflohenen Frauen ihre Ängste und Traumata auf, die sie in den vergangenen Jahren erlebt haben.

„Frauen und Mädchen hatten schon immer nur sehr begrenzte Möglichkeiten in Afghanistan. In meiner Kindheit musste ich immer fragen, wenn ich das Haus verlassen wollte und strikte Uhrzeiten einhalten – Jungen konnten machen, was sie wollten.“

Basira Akbarzada

Patriarchale Strukturen prägen die Gesellschaft in Afghanistan. Frauen mussten mutig sein, wenn sie auf die Straße gingen, um einzukaufen oder gar eine Anwältin einschalten wollten, weil sie zuhause geschlagen werden.

„Am Tag als die Taliban kamen, war ich zuhause. Ich war in Elternzeit mit meiner damals vier Monate alten Tochter. Ab da war alles anders. Wir konnten nicht mehr zu Arbeit, Mädchen nicht mehr zur Schule. Wir mussten alle zuhause bleiben, ständig.“

Basira Akbarzada

Basira ist zwar froh, jetzt in Sicherheit zu sein. Aber sie vermisst ihre Familie und ihre Heimat. Ihre Schwester war Medizinstudentin. Sie kann ihr Studium jetzt nicht mehr fortsetzen und ist nur noch zuhause. Sie hat Depressionen, aber bislang keine Chance, ausreisen zu können.

Hoffnung für Afghanistan

Auch Basira ging es nach ihrer Flucht nicht gut. Ihr Traum war es nicht, ihre Heimat zu verlassen.

„In den ersten Monaten hatte ich schlimme Depressionen. Ich habe zwar versucht stark zu sein. Aber ich bin jeden Abend unter Tränen eingeschlafen und habe von meiner Familie geträumt.“

Basira Akbarzada

Als das Universitätsprogramm losging, wurde es endlich besser. Auch wenn sie immer wieder traurig ist, wenn sie die Kurse besucht – denn die Frauen in Afghanistan haben nicht dieses Privileg.

„Es ist eine Katastrophe, dass eine ganze Generation nicht lernen kann. Die Frauen und Mädchen in Afghanistan sind ihrer Menschenrechte beraubt.“

Saina Hamidi

Saina und Basira teilen eine Hoffnung: Dass die Schulen und Universitäten für Frauen und Mädchen irgendwann wieder öffnen. Denn nur zuhause zu sein, allein mit Träumen von einer besseren Zukunft, das sei kein Leben. Bis es soweit ist und die Lage in ihrer Heimat wieder sicherer ist, wollen sie laut sein für die Afghan:innen, die die Taliban unterdrücken. Gemeinsam mit anderen Afghan:innen im Exil bauen sie eine Organisation auf, die sich für Bildung und Frauenrechte einsetzt. Sie wollen Online-Trainings geben, um Frauen in Afghanistan psychosozial zu unterstützen oder rechtlich zu beraten. Hoffnung, die vorsichtig glimmt.